Die Musik drohnt. Der große Saal mit den hohen Decken ist erfullt von kraftigen Bassen. Auf der Buhne wird im Rhythmus der Musik getanzt. Zum Pariser Tango von Mireille Mathieu, zu Yvonne
Catterfelds "Mein Horz ist gebrochen", zu Hip-Hop. Egal welche Musik einstigen Hotel - Festsaal erfullt, der heute zu einem Altenheim in Wuppertal gehort: Sie geht unter die Haut. Allein schon
wegen der Lautstarke scheint alles im Saal zu vibrieren. Der Boden, die Tische, der eigene Bauch.
Galina Rubinstein verfolgt konzentriert die Darbietungen auf der Buhne. Ein Lacheln huscht uber ihr Gesicht und lasst die dunklen Augen strahlen.
Sie ist zufrieden mit dem, was sie sieht. Die Frau aus Usbekistan, die uber 20 Jahre fur das Programm in einem russischen Zirkus verantwortlich
zeichnete, fuhrt seit uber zwei Jahren Regie bei der Theatergruppe "Kraft der Stille".
Stille empfinden die Besucher in diesem Augenblick allerdings nicht. Es ist sogar besonders lebhaft an diesem Sonntagnachmittag. Auf der Buhne ist Aktion. Im Saal machen sich einige
Tanzer auf dem Parkettboden warm. Vor der Spiegelwand im großen Saal stehen Manner und Frauen und schminken sich. Geordnete Geschhaftigkeit, wie es fur eine Theatergruppe bei der Probe ublich
ist.
Still ist es aber trotzdem - fur die Theater-Leute. Denn kaum ein Ensemble-Mitglied kann horen. Weder Musik noch Sprache. Die Schauspieler sind gehorlos.
Ihre Kommunikation lauft uber Gebarden, Gestik und mimik.
Das wird in dem Moment deutlich, als die Musik stoppt. Absolute Stille erfullt plotzlich den Saal. Kein Stimmendurcheinander, wie es sonst der Fall ist, wenn sich 20 Personen in
einem Raum aufhalten. Als ein auf dem Tisch abgelegter Stock zu Boden rollt, zucken die Horenden auf. Das Gerausch zerschneidet
fur eine Sekunde die Stille. Dann lauft die Musik wieder an. Aktion auf der Buhne.
Das sich die Laienschauspieler so bewegen, als konnten sie jedes Wort von Mireille Mathieu und all den anderen Sangern verstehen, verdanken sie den
Sinnen, die bei ihnen durch das Wegfallen des Horens starker ausgepragt sind. "Sie fuhlen die Musik und den Rhythmus", erklart Galina Rubinstein. Wenn
die Gehorlosen auf der Buhne stehen, wird aus dem reinen Song eine Geschichte, die mit Gestik und Mimik, Tanz und Pantomime erzahlt wird.
Dass jedes Wort, jedes Gefuhl aus den Liedern bei den Ensemblemitgliedern auch verstanden wird, dafur ist Irina Egorowa zustandig. Sie ist Gebardendolmetscherin und hat schon in
ihrer ftuheren Heimatstadt Minsk in Weißrussland mit Gehorlosen gearbeitet. Dort war sie unter anderem beim staatlichen weißrussischen Fernsehen als Gebardendolmetscherin beschaftigt. Als sie mit
ihrem Mann Nikolai vor sieben Jahren nach Wuppertal ubersiedelte, wollte sie wieder mit Gehorlosen arbeiten. Sie grundete das Theater "Kraft der Stille", das in einem halben Jahr den funften
Geburtstag feiert.
Die Gruppe zahlt 20 Mitglieder zwischen sechs und 40 Jahren. Sie alle verbindet die Gehorlosigkeit und ihre deutsch-russischen Wurzein. Aus ganz Nordrhein-Westfalen fahren die
Teilnehmer fur Woche nach Wuppertal oder Koln zur Probe. "Wir freuen uns uber Zuwachs, und der muss nicht zwingend aus Russland stammen", sagt Irins Jegorowa, die beim Theaterspielen auch
einen integrativen Aspekt sieht. "Gehorlose aus Deutschland und Russland konnen sehr gut miteinander kommunizieren."
Julia Sperling reist Sonntag für Sonntag von Münster an. Ihr Mann und zwei Tochter sind immer dabei. "Das Theterspielen ist fantastisch", erzählt die 30-Jährige in Gebärdensprace und
strahlt über das ganze Gesicht. Ihre Begeisterung für das Schauspielen - sie muss nicht mit Worten erklärt werden. Wenn sie als Clown über die Bühne wirbelt, darf sie tollpatschig sein. Der
Schalk sitzt ihr im Nacken. Dieses zweite Leben, in dem ihre Gehörlosigkeit keine Rolle spielt, macht
Julia Sperling selbstbewusster im gehörlosen Leben.
Neben Theaterleiterin Irina Egorowa und Regisseurin Galina Rubinstein gehört Liudmila Ilina zum Team. Sie ist ausgebildete Choreografin, hat einst ein Profi-
Ensemble im Volkstanz geleitet. Nun studiert sie mit den Laienschauspielern Bewegungen und Tänze ein. Das einzigartige Rhythmusgefühl der Gehörlosen hat
sie gleich von Beginn an fasziniert. "Sie fühlen einander ganz anders als in einer Gruppe von Hörenden."
Die Arbeit mit dem besonderen Ensemble macht dem Dreigestrin Spaß. "Sie berührt das Herz", sagt Galina Rubinstein. Allerdings sei die Betreuung sehr intensiv - anders intensiv als
bei Hörenden. "Das muss sein, denn wir wollen perfekt sein", meldet die Regisseurin ihren Anspruch an.
Ein bisschen Gebärdensprache hat sie mittlerweile gelernt. Aber wenn sie den Darstellern etwas vermitteln will, wofür ihr die Gebärden fehlen, steht Galina
Rubinstein einfach auf und macht es vor. "Wir brauchen Emotionen auf der Bühne", sagt sie und setzt deshalb auch bewusst auf überzogene, zuweilen clowneske Züge.
Wenn die Teilnehmer auf der Bühne spielen und ihre Augen scheinbar das Publikum streifen, sind diese dennoch bei Irina Egorowa. Sie ist es, die die Lieder
in die Gebärdensprache übersetzt, Gefühle und Emotionen für die Gehörlosen greifbar werden lässt. Die Arbeit sei deshalb anstrengend, weil ständig Augenkontakt vorhanden sein müsse - zwischen den
Darstellern und der Gebärdendolmetscherin.
Das Programm der Theatergruppe ist revueartig - Sketche, Lieder, Pantomime. Zu sehen ist es auf verschiedenen Bühnen. Der nächsze Auftritt steht am 12. Dezember in Düsseldorf an.
Derzeit arbeitet das Ensemble an einem Theaterstück, bei dem es um die liebe Familie geht. "Das Gebärdenlied hat in Russland Tradition. Die pflegen wir auch hier", erklärt Irina Egorowa und
lächelt bescheiden, wenn ihr Mann berichtet. Dass die Gruppe schon bei einem Wettbewerb in Minsk genau in diesem Gerne einen Preis erhalten hat. Die winkenden Hände gehören nun in die Höh: So
applaudieren nämlich Gehörlose.
Von Doerthe Rayen.